Mittags an einem ruhigen, unkomplizierten Tag mit der besten Tochter von allen erreicht mich eine SMS von meiner Freundin. Ob es in Ordnung sei, wenn uns Freunde abends für eine Stunde ihre Kinder vorbeibringen, fragt sie. Ich schaue kurz in das wie immer strahlende Gesicht der Tochter, kann mir die gleichzeitige Betreuung von zwei Kleinkindern (3 und 1,5 Jahre alt) und einem Baby aber nicht so recht vorstellen und antworte zögernd: „Oha, ich alleine mit drei Kindern? Naja, passt schon.“ Sind ja schließlich gute Freunde, die Eltern.
Ein wenig bestürzt, dass ich denken könnte, sie würde mir die gleichzeitige Betreuung von dreierlei Kindern antun können, versichert mir meine Freundin, dass sie zu dieser Zeit natürlich längst wieder da sei. Die beiden Jungs würden dann um 18 Uhr von ihrer Mutter gebracht und nach einer Stunde wieder abgeholt. Na dann, gar kein Problem, denke ich, sage ihr zu und widme mich wieder vollständig der Belustigung der besten Tochter von allen, das Thema Kinderbetreuung vollständig im Archiv der Kleinhirnrinde vergrabend.
Bis mich um 17:30 Uhr eine erneute SMS erreicht: „Ich schaffe es nicht rechtzeitig, sorry!“ Natürlich, denke ich, musste ja so kommen. Langsam beginnt sich kalter Angstschweiß auf meiner Hautoberfläche auszubreiten. Ich schüttele mich mal kurz. Reiß dich zusammen, sage ich mir. Drei Kinder auf einmal, pah. Kann ja nicht so schlimm sein…
17:55 Uhr. Es klingelt an der Tür. Ich schlucke noch mal kräftig, nehme die beste Tochter von allen auf den Arm und öffne. Die beiden Jungs stürmen die Treppe zur Wohnung hoch und begrüßen mich mit einem freudigen Hallo. Also der ältere, der jüngere kann noch kein Hallo. Die Mutter bedankt sich überschwänglich bei mir. „Kein Problem“, sage ich mit dem selbstsichersten Lächeln, das mir gerade noch möglich ist. Innerlich zittere ich. Die Mutter hat es eilig, sie muss zu einem Termin. Mit Malen könne man die Jungs ganz gut beschäftigen, ruft sie mir von der Treppe aus noch zu, dann ist sie verschwunden.
Ich schließe die Tür. „WIR SPIELEN BOOOOOT!!!“ schallt es in der gleichen Sekunde durch die Wohnung. Der Größere, er springt auf der Couch auf und ab und droht entweder in die Lücke hinter der Couch oder gegen den Couchtisch davor zu knallen. Aus einer anderen Ecke der Wohnung tönt ein lautes „Haben, haben, haben“ an mein Ohr. Sehr eindringlich vorgetragen vom jüngeren der beiden. Ich sehe nach und entdecke ihn (es ist noch Weihnachtszeit) vor meinem Schokoadventskalender, der mir jetzt seit mehr als dreißig Jahren jedes Jahr von meiner Mutter feierlich überreicht wird. Damit die Stimmung nicht kippt – wäre ja der Super-GAU -, gebe ich nach. Das heutige Türchen war eh noch nicht geöffnet.
Dankend nimmt es der Jüngere entgegen. „Was ist das?“ Hinter mir steht der Ältere und hat sein Bootsspiel wohl gerade unterbrochen. Seinen großen Augen entnehme ich, dass er sehr genau weiß, was „das“ ist. Der Gerechtigkeit halber öffne ich das Türchen des morgigen Tages und gebe ihm die Schokolade. Macht mich ja eh nur dick. Die nächste Salve des „haben, haben, haben“ des Jüngeren blocke ich selbstbewusst ab und stelle den Adventskalender wieder weg. Die nächsten Türchen gehören Vati, denke ich, aber das nächste „Haben“-Stakkato wird zusätzlich durch Einsatz des Zeigefingers und deuten auf den Kalender unterstrichen. Ruhig bleiben und Ablenkung schaffen, nehme ich mir vor.
Malen beschäftigt sie, hat sie doch gesagt, die Mutter. Sind wir natürlich nicht drauf vorbereitet. Kann die beste Tochter von allen ja noch nichts mit anfangen. Nach kurzer Überlegung ziehe ich ein Stapel Blätter aus dem Drucker und werfe sie, zusammen mit ein paar Kugelschreibern und Textmarkern vom Schreibtisch, zwischen die in der Zwischenzeit auf dem Boden herumtollenden Jungs. „MALEN!!!“ schreit der Ältere. Ich lächele, er hat mich verstanden. Auch der Jüngere greift nach Vorbild seines Bruder zum Stift, zeigt aber eindeutig Probleme damit, seine Federführung auf das Blatt zu beschränken. Nach kurzer Zeit ziehen sich kräftige blaue Striche über unser Laminat, ich verbuche es als Erfahrungswert.
Die durch das Malen ausgelöste Ruhe hält nur kurz, dann sind die Brüder uneinig im Einsatz des Stifts. Der vom Jüngeren verwendete „Frankfurter Rundschau“-Kuli hat das Interesse des Älteren geweckt. Lautstark und mit Körpereinsatz wird um das schlichte Werbegeschenk gestritten, mir gehen die Alternativen aus. „WIR SPIELEN BOOOT!!!“ rufe ich und unterbreche damit sofort die gegenseitigen Zwistigkeiten. Einhellig stürmen die beiden Jungs die Couch und stellen deren Federung auf eine Belastungsprobe. Ich hole kurz Luft, ein Gedanke an meine Tochter schießt in meinen Kopf. Eigentlich wollte ich sie abgelegt haben, tatsächlich befindet sie sich aber immer noch auf meinem Arm und ist mittlerweile über mein Hin-und-her-Rennen und die fehlende Beachtung meinerseits in einen tiefen Schlaf gefallen. Wenigstens sie spielt mit, denke ich und versuche zumindest an ihrer Situation nichts zu ändern.
Die beiden Jungs haben sich in der Zwischenzeit aufgeteilt. Der Ältere bespringt immer noch unsere Couch und hat dabei die reichlichen Kissen auf den ganzen Wohnzimmerboden verteilt. Stören ja auch nur beim Springen. Der Kleinere steht vor unserem bis zum Boden reichenden Fenster und sieht auf die Straße. „Mama?“ spricht er und zeigt auf die Straße runter. „Die kommt gleich wieder“ lächele ich ihm zu, und denke, fang jetzt bloß nicht an zu heulen, Kleiner. Er entdeckt irgendeinen Strauch, der sich vor ihm in einer dünnen Glasvase auftut, die ungefähr seiner Körpergröße entspricht. Scheint meine Freundin aufgestellt zu haben. Mit den Fingern fängt er an, daran herum zu fuchteln. Die Glasvase kommt ins Schlingern. Artistisch fange ich sie mit dem Fußgelenk ab und bugsiere ihn mit der rechten Hand vom Fenster weg, während die beste Tochter von allen auf meinem linken Unterarm schläft. In der nächsten Sekunde ist der Kleine verschwunden.
Nachdem ich die Vase aufgestellt habe, suche ich ihn. Der Größere befindet sich mittlerweile in einem Filzkästchen, in dem wir normalerweise unsere Fernbedienungen aufbewahren und treibt durch das Kissenmeer unseres Wohnzimmers. Wohl sein neues Boot. Den Kleinen finde ich im Kinderzimmer vor dem Wickeltisch. Von der Tür aus versuche ich zu sehen, was er da ein paar Zentimeter vor seinen Augen fixiert. Mir fällt ein, dass wir in dem Fach auf seiner Kopfhöhe auch die Utensilien für die Nagelpflege der besten Tochter von allen aufbewahren. Stört die ja nicht. Kommt die ja noch nicht ran. Der Kleine schon. Voller Panik stürze ich nach vorne und reiße ihm mit meiner einzig freien Hand die Nagelschere aus den Fingern. Er strahlt mich an. Mit beiden Augen. Gerade noch mal gut gegangen.
Aus dem Wohnzimmer ein Schrei. Ich stürze rüber. Der Größere ist beim Springen zwischen zwei Couchteilen stecken geblieben. Die Befreiungsaktion wird mit weiterem Springen goutiert. Ich entschließe mich trotzdem, lieber weiter nach dem Kleinen zu sehen, der nebenan im Kinderzimmer einen Holzapfel beäugt. Zielsicher den einzigen gegriffen, der über einen äußerst spitzen Stil verfügt. Auch diesen entreiße ich ihm – da bewegt sich ein Schlüssel in der Tür. Meine Freundin ist da und steht jetzt mit weit geöffnetem Mund, das Chaos betrachtend, im Eingang. Wortlos trete ich auf sie zu, gebe ihr unser Kind in den Arm und streife eine Jacke über die sich ausbreitenden Schweißflecken meines Hemds.
Kurz auf die Straße, Luft holen, denke ich. Ich sehe auf die Uhr. Gerade mal eine halbe Stunde ist seit dem Eintreffen der beiden Jungs vergangen. Gefühlt waren das zwei Stunden. Vielleicht doch nicht so schlecht, ein Einzelkind, denke ich noch in der Hitze des Gefechts. Als ich wieder nach oben komme, sitzen meine Freundin mit unserer Tochter und die beiden Jungs in fröhlicher Eintracht und totaler Stille auf der Couch und lesen ein Buch. Kein Wunder, ich hab ja auch alles aus ihnen herausgeholt.